Pflegekompetenzen von Angehörigen stärken
03.02.2015
Herr Grune, Sie sind als psychiatrischer Fachkrankenpfleger im Asklepios Fachklinikum Göttingen tätig. Vor vier Jahren riefen Sie das Projekt „Pflegekurse für Angehörige“ ins Leben. Warum sollten Angehörige an Schulungen teilnehmen?
J-O. Grune: Ich habe erlebt, dass besonders Angehörige eines an Demenz erkrankten Patienten zu wenig über die Zeit nach der Entlassung informiert sind. Ein Beispiel: Wenn sie nicht wissen, dass der Patient die in der Klinik erhaltene Medikation unbedingt weiter nehmen muss, kommt es vor, dass Angehörige diese absetzen. Dem Betroffenen geht es doch ganz gut, denken sie etwa, also muss er die Pharmaka nicht weiter nehmen. Dann sind sie natürlich verunsichert, wenn sich der psychische Zustand des Patienten plötzlich rapide verschlechtert. Woher sollen Familienmitglieder auch wissen, was ein Medikamentenspiegel ist, wenn es ihnen niemand erklärt? Es sind solche Erlebnisse, die dazu führten, über Pflegekurse nachzudenken und sie schließlich anzubieten.
Sind die Schulungen ausschließlich für Angehörige von Menschen mit Demenz gedacht?
J-O. Grune: Nein, nicht nur. Ein Schwerpunkt unserer Pflegekurse befasst sich mit dem Krankheitsbild der Demenz. Wir bieten aber auch Schulungen für Menschen an, deren Angehörige an bipolaren Störungen, Ängsten oder Psychosen leiden. Neben direkt krankheitsbezogenen Inhalten können Teilnehmer bei uns auch allgemein mehr über tagesstrukturierende Maßnahmen im häuslichen Umfeld erfahren. Wir beraten die Helfenden auch, wenn sie die Pflege des Erkrankten überlastet. Im Kurs „Das Kreuz mit dem Kreuz – Rückenschonende Arbeitsweisen“ zeigen wir ihnen Bewegungsabläufe, die dazu beitragen, körperliche Belastungen zu reduzieren. Es ist ein breiter Fächer an Kursangeboten, der sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, und Bedürfnisse der Angehörigen im Alltag berücksichtigt. Die Module unserer Pflegekurse beinhalten jeweils ein für sich stehendes Thema. Alle Kurse können unabhängig voneinander besucht werden.
Was kann auf Angehörige zukommen, wenn sie bereit sind, ein erkranktes Familienmitglied zu Hause zu versorgen?
J-O. Grune: Was pflegende Angehörige tagtäglich leisten, wird oftmals unterschätzt. Denn viele stehen noch im Berufsleben und bringen zusätzlich rund 36 Stunden die Woche für die Pflege ihrer Angehörigen auf. In dieser Zeit gehen Kollegen Freizeitaktivitäten nach oder erholen sich. Viele pflegende Angehörige kümmern sich zudem täglich und nicht selten über viele Jahre hinweg. In dieser Phase müssen sie oft ihre sonstigen Beziehungen vernachlässigen, sie leben in einer Art sozialer Isolation. Auch Urlaubswünsche müssen sie in dieser Phase zurückstellen.
Was ist Angehörigen in den Schulungen besonders wichtig?
J-O. Grune: Die Teilnehmer wollen nicht von oben herab vermittelt bekommen, wie sie zu pflegen haben. Vielmehr versuchen sie, bei uns Antworten auf Fragen zu bekommen, die sich in ihrer individuellen Situation stellen. Manchmal profitieren die Angehörigen bereits davon, dass sie in den Kursen einen Ansprechpartner finden, der ihnen zuhört und ihre Lage auch verstehen kann.
Wie erfahren Angehörige von den Schulungen?
J-O. Grune: Wir haben Plakate und einen Flyer erstellt, die über die Inhalte der Pflegekurse informieren. Diese haben wir an niedergelassene Facharzt-Praxen im Bereich Göttingen, Northeim und Osterode verschickt. Auch auf allen Stationen in der Klinik, in der ich tätig bin, liegt der Infoflyer aus. Unsere Mitarbeiter werden im Rahmen der Innerbetrieblichen Fortbildung in „Angehörigenarbeit“ geschult. Sie empfehlen Angehörigen die Kurse, während ihr erkranktes Familienmitglied in stationärer Behandlung ist.
Sind die Pflegekurse nur für Angehörige der Patienten gedacht, die im Fachklinikum Göttingen behandelt werden?
J-O. Grune: Nein. Unser Angebot richtet sich an alle Interessierte, unabhängig davon, ob eine Pflegebedürftigkeit im häuslichen Umfeld besteht und welcher Pflegekasse man angehört. In den ersten Jahren war es nötig, dass die Angehörigen ins Klinikum kamen, um die Pflegekurse zu besuchen. Mittlerweile können unsere Dozenten die Themen aber auch individueller anbieten und die Menschen dort erreichen, wo sie leben. Dafür haben wir das „ZaP-Mobil“ im Zentrum für ambulante Pflege und Beratung (ZaP) entwickelt.
Welche Kompetenzen für die alltägliche Pflege entwickeln die Teilnehmer in den Schulungen?
J-O. Grune: Viele pflegende Angehörige haben das Gefühl, dass sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. In den Kursen erleben sie, dass es andere Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen machen. Jeder Kurs dauert 90 Minuten. Diese Zeit nutzen wir, um den Teilnehmern „Pflegehandwerk“ zu vermitteln, das sie in der eigenen Häuslichkeit anwenden können. Ziel ist es, dass die Teilnehmer von unseren Erfahrungen direkt profitieren. Viele Angehörige nutzen unser Angebot auch, um sich mitzuteilen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Es kam auch schon vor, dass sich Paare im Anschluss an einen Pflegekurs zusammen getan haben, um die Pflege und Freizeit gemeinsam zu gestalten. Sie organisierten zum Beispiel für ein Wochenende eine gemeinsame Pflege für die erkrankten Angehörigen und fuhren zusammen in einen Kurzurlaub.
Was können Pflegende bereits auf Station tun, um die Zeit nach der Entlassung für Patient und Angehörige zu verbessern?
J-O. Grune: In den Köpfen vieler Pflegender und Therapeuten stehen Angehörige leider noch eher am Rand der Behandlungspfade. Wenn wir die Nahestehenden eines Patienten mehr ins Zentrum rücken, profitieren alle Seiten davon. Es lassen sich zum Beispiel Arbeitsabläufe individuell abstimmen und erklären. Die Informationen, die wir von der Familie erhalten, können andererseits frühzeitig in die Behandlung einfließen, und wir können das Umfeld an der Behandlung teilhaben lassen. Durch dieses „Miteinander“ entwickeln pflegende Angehörige ein verändertes Pflegeverständnis für notwendige Maßnahmen in der Klinik und zu Hause. Das gibt ihnen und den Patienten die Sicherheit, im häuslichen Umfeld zurecht zu kommen.
Was war für Sie im Rahmen der Pflegekurse ein besonders positives Beispiel?
J-O. Grune: Ein Ehepaar richtete in ihrem Hause eine Wohnung für einen Angehörigen ein, der an Demenz erkrankt war. Trotz aller Mühen gelang es dem Paar zunächst nicht, seine Selbstständigkeit zu erhalten. Im Pflegekurs berichteten sie von ihrem Problem. Die Wohnung im Dachgeschoss war topmodern ausgestattet – Flatscreen, Mikrowelle, Funktelefon und Beleuchtung per Bewegungsmelder. Zur Wohnung führte eine enge Treppe, die dem Betroffenen Angst machte. Wir fanden eine gute Lösung für das Problem. Die Einliegerwohnung im Keller des Hauses hat weit weniger Barrieren. Die Familie baute diesen Bereich auf die Bedürfnisse des erkrankten Angehörigen um. Statt moderner Elektronik schafften die Angehörige ältere Möbel und Geräte an, die die Umgebung des Erkrankten vertrauter machen sollten. Auch ein Telefon mit Wählscheibe durfte nicht fehlen. Die neue Wohnsituation förderte die Selbstständigkeit und besserte die Stimmungslage des Herrn schlagartig.
Wer schult die Angehörigen in den Pflegekursen?
J-O. Grune: Die Kurse leiten ausschließlich dafür qualifizierte Pflegefachkräfte. Unser Motto ist „Aus der Pflege für die Pflege“. Zu jedem Modul haben wir die wichtigsten Inhalte sowie unsere Kontaktdaten für eventuelle Rückfragen in einem Skript zusammengefasst, welches jeder Teilnehmer nach Hause mitnehmen darf.
Was müsste sich noch verbessern, um Angehörige bestmöglich zu unterstützen?
J-O. Grune: Pflegende können bereits einen wichtigen Beitrag leisten, wenn die Patienten noch in der Klinik und die Angehörigen damit erreichbar sind. Die Nahestehenden eines Patienten können vieles während der stationären Phase erlernen, etwa einfache Pflegetechniken. Wichtig ist, dass wir sie als Unterstützer und nicht als Störfaktor wahrnehmen. Mein großes Anliegen ist, dass der Stellenwert von pflegenden Angehörigen gesellschaftspolitisch aufgewertet wird. Es gibt schon erste Unternehmen, die pflegende Angehörige zeitlich entlasten. Entweder durch vereinbarte zeitliche Freistellungen bei Lohnfortzahlung oder aber durch die Einrichtung von Gleitzeit und Arbeitszeitkonten. Auch die Politik muss erkennen, dass die Pflege eines Menschen eine besondere Aufgabe ist, die nicht per se und ohne Hilfe und Informationen von „jedem“ geleistet werden kann. Große Verbesserungen erhoffe ich mir durch das zum 01.01.2015 in Kraft tretende „Erste Pflegestärkungsgesetz“.
Herr Grune, herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Thomas Koch.
Zur Person:
Jens-Olaf Grune ist Fachkrankenpfleger und stellvertretende pflegerische Ebenenleitung im Asklepios Fachklinikum Göttingen. 2009 erhielt er den „Göttinger Preis“ für die beste Erstveröffentlichung, seit 2011 ist er Leitender Dozent für Pflegekurse. 2014 gewann der Fachkrankenpfleger den 3. Platz beim BFLK Bundespflegepreis für die Entwicklung der Pflegekurse für Angehörige.
Mehr zum Thema in CNE.online
Lesen Sie ergänzend auch den Artikel "Die am Rande sieht man nicht" von Jens-Olaf Grune, der in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Psych.Pflege Heute" erschienen ist.
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