Interview: "Wir verlieren den Anschluss in Europa"
07.01.2014
Obwohl die meisten europäischen Länder mittlerweile 12 Jahre Schulbildung für die Pflegeausbildung voraussetzen, geht Deutschland weiter einen Sonderweg. Warum das so ist und wie eine konzertierte Aktion für die Pflege in Deutschland aussehen könnte, fragten wir Professor Frank Weidner vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) in Köln.
Sehr geehrter Herr Professor Weidner, in den meisten EU Ländern beläuft sich die Zugangsvoraussetzung für den Pflegeberuf auf zwölf Jahre allgemeiner Schulbildung. In Deutschland allerdings bleibt es weiter bei zehn Jahren. Warum?
Frank Weidner: Die Ursachen sind komplex. Deutschland ist ein Land der Techniker und Ingenieure. Wir sind begeistert von unserer Automobilindustrie, weit weniger populär sind soziale Berufe wie die Pflege. Das zeigt sich meiner Meinung nach auch in der vielerorts falschen Annahme, dass mehr Fachwissen für technische Professionen nötig ist, als beispielsweise für den Pflegeberuf. Dieses Zerrbild ist bei vielen politischen Entscheidern vorhanden, die zehn Jahre Schulbildung heute als völlig hinreichend für die Pflege erachten. Hier ist ein Umdenken nötig. In den meisten europäischen Ländern hat die Politik die Zugangsvorgaben auch erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren angehoben. In Deutschland hat sich dieser Prozess bislang nicht durchsetzen können. Im Gegenteil, die letzte Bundesregierung hat alles daran gesetzt, dass es in Deutschland bei zehn Jahren bleibt und wir damit den Anschluss in Europa verpassen.
Ich finde, dass daran deutlich zu erkennen ist, dass die beteiligten Politiker leider keine Bildungsexperten sind. Denn es ist eben nicht egal, was man mitbringt, wenn man eine Ausbildung in der Pflege beginnt. Bildung soll aufeinander aufbauen und das tut sie in diesem Fall öfter nicht. Die Diskrepanz von dem, was viele Schulabgänger heute mitbringen und dem, was seit 2003 gesetzlich gefordert ist an Lerninhalten, klafft weit auseinander. Das bestätigen mir immer öfter viele Pädagogen in der Pflege.
Warum reichen zehn Jahre Schulbildung heute nicht mehr aus, um die Ausbildung in der Pflege zu beginnen?
Frank Weidner: Wenn Sie sich anschauen, wie die Anforderungen auf europäischer Ebene definiert werden, und daran orientiert sich unser Pflegegesetz, dann sehen Sie die deutsche Situation in einem anderen Licht. Verlangt sind 2.100 Stunden theoretische Bildung. Das ist vom Umfang an Theorie eher ein Studium und nur mit Mühe im Rahmen einer dreijährigen Ausbildung zu bewältigen. In anderen deutschen Ausbildungsberufen, etwa im Handwerk, sind dreißig Prozent des Lernstoffes aber Allgemeinbildung. In der Pflegeausbildung passen diese Grundlagen zeitlich nicht mehr rein. Aber kann die Pflege beispielsweise auf Mathe, Deutsch und Englisch verzichten? Wenn ich nur an die Aufgaben denke, mit denen Pflegende auf Intensivstationen täglich konfrontiert sind oder an die Fähigkeiten, die eine Pflegende besitzen muss, wenn sie Menschen in einem Pflegestützpunkt berät, dann lautet meine Antwort: Nein! Aus diesem Grund bin ich unter anderem für die Anhebung. Wenn in der Pflegeausbildung kein Platz für die Grundlagen ist, dann muss dies vorher geschehen.
Im Rahmen einer Miniumfrage zum Thema in CNE.online äußerten viele Teilnehmer, dass nicht die schulische Ausbildung darüber entscheide, inwieweit sich jemand für den Beruf eigne, sondern individuelle Faktoren wie etwa soziale Kompetenzen.
Frank Weidner: Natürlich sind soziale Faktoren gerade in einem personennahen Beruf wie der Pflege wichtig. Das waren sie immer und das bleiben sie auch. Wir müssen dennoch gleichzeitig sehen, dass die fachlichen Ansprüche an das Berufsfeld enorm gestiegen sind. Ausschließlich auf soziale Fähigkeiten abzuheben, um für die Pflege geeignet zu sein, greift daher zu kurz. Berufsstarter müssen heute in gleicher Zeit sehr viel mehr lernen. Ihr Handeln soll auf wissenschaftlicher Grundlage fußen und von ihnen zugleich hinterfragt werden. Obwohl es immer mehr einem Studium ähnelt, was die Auszubildenden an Theorie erfahren, sind sie danach im Beruf weiter im direkten Kontakt mit Menschen. Sie reden mit Menschen, sie ernähren und unterstützen sie da, wo die Patienten sich selbst nicht helfen können. Klar, hier kommt es auf die menschliche Eignung an. Aber nur darauf abheben? Denken Sie an einen Sozialarbeiter, die müssen auch sozialkompetent sein. Aber hier besteht keinerlei Diskussion darüber, dass ein Studium zugrunde liegen muss, ehe diese mit Menschen arbeiten. Um es klar zu sagen: Das, was Pflegende heute leisten sollen, ist ohne fundierte, anspruchsvolle Vorbildung und darauf aufbauende Ausbildung nicht zu machen. Das Herz am rechten Fleck zu haben, reicht nicht aus.
In Europa erkennt man diese Tendenz, dass eine Aufwertung der Qualifizierung nötig ist. Großbritannien etwa stellt jetzt komplett auf das Pflegestudium um. In Zukunft studieren dort alle, wenn sie in der Pflege verantwortlich tätig sein wollen. Ich plädiere jetzt nicht dafür, dass in Deutschland alle studieren sollten, um in der Pflege zu arbeiten. So weit sind wir noch nicht. Aber wir können uns angesichts dieser Entwicklung nicht leisten, die Zugangsvoraussetzungen einfach so zu belassen oder sogar noch herabzusetzen, wie vor einigen Jahren bereits geschehen.
Sie meinen die Vorstöße, dass auch Hauptschüler oder Langzeitarbeitslose in der Pflege tätig werden könnten?
Frank Weidner: Ja, zum Beispiel. Ich nenne dieses politische Handeln pflegefeindlich, weil es die Menschen nicht mehr gut genug qualifiziert für die Pflege, und sich so auch mittel- und langfristig auf die pflegeabhängigen Menschen auswirkt. Daneben scheint mir diese Politik als frauenfeindlich, da in der Pflege überwiegend Frauen tätig sind, die dies erdulden müssen. In industriellen Berufen, die mit ähnlichen Problemen des Fachkräftemangels zu kämpfen haben, aber einen höheren Männeranteil aufweisen, lässt sich die Politik ganz andere Strategien einfallen. Da greifen etwa Abwerbestrategien, um qualifizierte Menschen zu erreichen oder diese auszubilden. Von der Frage der Bezahlung ganz zu schweigen. Hier wird mit zweierlei höchst unterschiedlichem Maß gemessen.
Was muss sich ändern, um die Pflege zukunftsfähig zu machen?
Frank Weidner: Zunächst muss das Downgrading der Qualifikation für die Pflege endlich aufhören. Es schadet dem Ansehen der Pflege und macht sie schwächer im zukünftigen Wettbewerb um kluge Köpfe und soziale Charaktere. Warum sonst interessieren sich immer weniger Pflegefachkräfte aus dem Ausland für uns? Ich plädiere für ein überlegtes systematisches Handeln, damit wir wenigstens annähernd an ein europäisches Niveau heranreichen. Denn bei uns ist der Fachkräftemangel schärfer als in den meisten anderen europäischen Ländern ausgeprägt, was ja bereits eine Auswirkung der falschen Politik der vergangenen Jahre in Deutschland ist.
Was ich mir vorstellen könnte ist eine konzertierte Aktion für die Pflege, die eine politische Aufwertung der Pflege beinhaltet. Der Beruf muss endlich durchgreifende, bessere Arbeitsbedingungen und eine zukunftsfähige Bildungsgrundlage erhalten, die auch der Verantwortung Rechnung trägt, die Pflegende heute übernehmen müssen. Wir müssen dafür mit den verschiedensten Experten an allen Stellen gleichzeitig arbeiten. Ich stelle mir das wie ein Orchester vor: Alle Beteiligten sollten in einem Pflegegipfel, der das Wort auch verdient, zu einer Verbesserung beitragen und gemeinsam „musizieren“, um im Bilde zu bleiben. Bund, Länder, Kommunen, Pflegeverbände, Arbeitgeber, Wissenschaftler, Krankenkassen und Kliniken sollten sich endlich zusammensetzen und erst dann auseinandergehen, wenn sie die Frage wirksam beantworten können: „Wie machen wir die Pflege fit für die Zukunft?“
Natürlich ist das mit Kosten verbunden, aber wir haben in Europa gute Vorbilder. Die Briten, Niederländer oder Skandinavier geben weit mehr Geld für die Pflege aus als wir und kriegen das hin. Wenn die Pflege wichtig genug ist, wird sich die Frage der Finanzierung auch lösen lassen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Professor Dr.phil Frank Weidner
Interview: Thomas Koch
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