Pflege in Deutschland: Zu wenig Zeit
13.11.2015
Kristina Mohr
30 Prozent der Pflegenden im Nachtdienst fehlt die Zeit für eine angemessene Versorgung der Bewohner, 25 Prozent klagen über zu wenig Personal. Das ist das Ergebnis einer Online-Befragung, die Pflegewissenschaftler der Universität Witten/Herdecke (UW/H) durchführten. Sie befragten 276 Pflegende in deutschen Altenheimen zu deren Belastung während der Nacht.
Im Schnitt ist demnach eine einzelne Pflegekraft für 52 Personen zuständig, 8,7 Prozent betreuen in der Nacht sogar mehr als 100 Personen. Einen Hintergrunddienst, der in Krisensituationen unterstützen könnte, gibt es meist nicht. „Wer für 52 Personen in der Nacht zuständig ist, muss damit rechnen, dass – so wie es in Altenheimen meist aussieht – hinter 26 Türen jederzeit jemand beim Weg zur Toilette stürzen kann“, sagt Prof. Christel Bienstein, die Leiterin der Studie und des Departments Pflegewissenschaft an der UW/H. „Bei 52 Personen bleiben dem oder der Pflegenden rein rechnerisch zwölf Minuten für jeden Patienten pro Nacht für Inkontinenzversorgung, Lagerung oder Verabreichung von Medikamenten. Das ist Stress pur!“, macht Bienstein klar.
Keine Zeit für alle Aufgaben
Allen Befragten zufolge ist die Inkontinenzversorgung die häufigste Aufgabe während der Nacht, gefolgt von der Patientenlagerung (73 Prozent) und der Pflegedokumentation (50 Prozent). Hinzu kommt, dass sich 60 Prozent der Pflegenden „häufig“ oder „sehr häufig“ um herumirrende Patienten mit Demenz kümmern müssen. Pflegende könnten regelmäßig aufgrund von Zeit- und Personalmangel anfallende Aufgaben nicht oder nicht vollständig ausführen.
Zeitmangel auch in Kliniken
Die häufigsten Belastungsfaktoren – zu wenig Zeit und Personal – führen auch Pflegende in deutschen Krankenhäusern an. So gaben beispielsweise bei einer Untersuchung für den diesjährigen Picker Report nur 26 Prozent der befragten Pflegenden an, „meistens“ Zeit für eine bedürfnisgerechte Patientenversorgung zu haben. Dem gegenüber stehen 35 Prozent, die nur selten ihre Aufgaben während der regulären Arbeitszeit schaffen und 45 Prozent, die häufig aufgrund von Personalengpässen einspringen müssen.
Bedeutet mehr Personal automatisch mehr Qualität?
Das geplante Krankenhausstrukturgesetz enthält ein Pflegestellenförderprogramm, mit dem die Bundesregierung diesen Zuständen abhelfen will. Dass jedoch eine rein quantitative Personalerhöhung etwas an den aktuellen Zuständen in der Pflege ändert, bezweifeln die „Wirtschaftsweisen“ in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Jahresreport. Der unabhängige „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ stellt infrage, ob ein „größerer Einsatz von Pflege am Bett die Behandlungsqualität immer verbessert“. Eine bessere Pflege solle vorzugsweise durch mehr Qualitätstransparenz und -wettbewerb gefördert werden. Auch könne ein Pflegestellenförderprogramm nur langsam für die gewünschte Anzahl an Pflegekräften sorgen. Der bereits jetzt existierende Mangel an Personal sei langfristig nur über Ausbildung oder Zuwanderung zu beheben.
DBfK: „Direkter Zusammenhang zwischen Patienten-Outcome und Personalmangel“
Der DBfK wies die Argumentation des Sachverständigenrats in einer Pressemitteilung scharf zurück. „Wer den Nutzen von mehr Pflege am Krankenbett infrage stellt und dies mit einem einzigen Gutachten einer Forschergruppe der Universität Southampton zu belegen versucht, kennt die internationale Evidenz zu diesem Thema nicht“, sagt DBfK-Sprecherin Johanna Knüppel. „Es gibt zahlreiche große Studien, die den direkten Zusammenhang zwischen Patienten-Outcomes und der Anzahl und Qualifikation des vorgehaltenen Pflegepersonals beweisen. Dies zu ignorieren heißt, die Sicherheit von Patienten und Mitarbeitern bewusst aufs Spiel zu setzen“, so Knüppel weiter. Nach seriösen Berechnungen fehlten in deutschen Krankenhäusern zwischen 70.000 und 100.000 Pflegefachpersonen. Um zu wissen, dass die derzeitige Situation von guter Qualität weit entfernt sei, müsste man nicht erst Studien zu Rate ziehen, meint Knüppel.
Quellen
- Universität Witten/Herdecke. Nachtschicht im Altenheim: Alleinverantwortlich für 52 Bewohner. Pressemitteilung vom 11.November 2015.
- Universität Witten/Herdecke. Die Nacht in deutschen Pflegeheimen. Ergebnisbericht.
- Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zukunfstfähigkeit in den Mittelpunkt. Jahresgutachten 2015/2016.
- DBfK. Gute Versorgung nur mit genügend Personal! Pressemitteilung vom 12. November 2015.
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Selbst unter idealen Arbeitsbedingungen ist der Nachtdienst eine Belastung für den Körper. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie Sie sich auf den Nachtdienst vorbereiten und ihn gestalten können. Lesen Sie dazu die Lerneinheit „Spezifika im Nachtdienst“.
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